Der Nationalpark Hainich weist über 90 Prozent nutzungsfreie Fläche auf. Hier kehrt die Natur zu ihren Wurzeln zurück, sie darf und soll als Wildnis wuchern, getreu dem Motto aller deutschen Nationalparks "Natur Natur sein lassen".
Wildnis ist im dicht besiedelten Europa sehr selten geworden. Im Gegensatz zu Wirtschaftswäldern kann sich der Wald im Nationalpark Hainich unberührt nach seinen eigenen Regeln wieder zu einem "Urwald mitten in Deutschland" für künftige Generationen entwickeln: Er darf ganz natürlich altern, Bäume dürfen zusammenbrechen und das Totholz liegenbleiben. So kann daraus vielfältiges neues Leben entstehen. Hier entsteht unsere Wildnis von morgen.
Totholz bedeutet keineswegs, dass es in ihm kein Leben gibt. Ganz im Gegenteil: Etwa ein Viertel der Waldbewohner ist auf Totholz angewiesen. Es ist für zahlreiche Vögel, Insekten, Kleinsäuger, Reptilien und Amphibien Lebensraum, Brutplatz oder Nahrungsquelle. So leben unter der Rinde von abgestorbenen Bäumen viele Insekten. Hier haben sie auch ihr schützendes Winterquartier, um auf den nächsten Frühling zu warten. Unter sich ablösender Rinde finden oft auch Fledermäuse ihre Wohnstätte.
Totholz ist ein wichtiges Element im Kreislauf des Waldes. In Teilbereichen des Nationalparks gibt es heute schon beträchtliche Totholzvorräte, ähnlich wie in echten Urwäldern.
Doch auch der Wald ist auf die Totholzbewohner angewiesen: Regenwürmer, Insekten, Tausendfüßer und Bakterien zersetzen das Holz sowie abgestorbene Pflanzen und Tierkadaver in ihre Ausgangsstoffe. Es bildet sich Humus, dessen Nährstoffe wiederum für das Wachstum der Waldpflanzen notwendig sind. Fehlt das Totholz, schadet das dem biologischen Gleichgewicht des Waldes.
Allgemein sind die meisten Laubwaldbestände aufgrund ihrer forstwirtschaftlichen Nutzung eher jung. Alte Bäume werden zur Holznutzung entnommen. Der Totholzanteil ist dadurch wesentlich geringer als im Naturwald. Dies hat zur Folge, dass all jene Arten, die Totholz benötigen, besonders gefährdet sind.
Die Natur hat keine Maßstäbe für Zeit, Ordnung und Schönheit. In der Natur gibt es weder Chaos noch wirtschaftliche Ziele, weder Nutzen noch Schaden. Die Natur kennt nur einen dynamischen Prozess von Werden, Wachsen und Vergehen.
Wildnis entsteht als Gegenposition zur Kultur, zur Zivilisation, und ist somit ein kulturelles Phänomen. Wildnis lässt sich nicht naturwissenschaftlich definieren. Wildnis in Nationalparks meint den dynamischen Ansatz im Naturschutz – "Natur Natur sein lassen" – das Zulassen natürlicher Prozesse ohne das Gestalten der Menschen und ohne vorgefertigtes Wissen über Weg und Endpunkt des Prozesses. Wildnis beginnt, sobald die natürlich ablaufenden Prozesse die Gestaltung des Menschen überprägen. Nationalparks gewährleisten dies dauerhaft auf großer Fläche. Sie sind damit das Herzstück für die Umsetzung der Wildnisziele der nationalen Biodiversitätsstrategie.